Personale „DAS UNBEKANNTE MEISTERWERK. Hommage an Peter Goedel“


Peter Goedel ist einer der großen Unbekannten des deutschen Films. Seit bald fünfzig Jahren arbeitet er als Regisseur und Produzent, ist abwechselnd fürs Kino und Fernsehen tätig. Er hat Dokumentarfilme gedreht, Reportagen und TV-Features, Lehrstücke und Essays und eine Handvoll Spielfilme noch dazu. Der Horizont, den er uns als Publikum aufspannt, reicht von der politisch alerten Literaturverfilmung über die genaue Beobachtung der Handwerker des Kinos bis zur Mutter aller Castingshows. Einige seiner Werke – wie Talentprobe (1980) oder die von ihm produzierte Kompilation Rendezvous unterm Nierentisch (1987) – haben Klassikerstatus, andere – wie Ortelsburg – Szczytno. Es war einmal in Masuren (1990) – sind immer noch zu entdecken, und manche – wie seine klugen Filmtips für den WDR – gar schon verloren.

Der Filmkritiker Peter Nau, der sich seit mehreren Jahren um die Wiederentdeckung von Goedels vielgestaltigem Schaffen verdient macht, nennt diesen Autorenfilmer mit seiner großen Affinität zu Literatur und Musik einen „poetisch Forschenden obersten Ranges, insofern, als bei ihm der Film als Film sich bemerkbar macht. Das Leben der Filme in sich bleibt immerzu spürbar. ‚Ich male doch ein Bild, nicht einen Stuhl‘, meinte Schönberg. In der Reinheit des Stils seiner Filme spiegeln sich Peter Goedels Anschauung und Empfindung der menschlichen, gesellschaftlichen, staatlichen Dinge.“

Geboren 1943 in Torgau an der Elbe, wächst Goedel in der DDR auf, in Halle an der Saale und Potsdam. Nach dem Abitur flieht er 1961 mit Eltern und Bruder in den Westen; studiert in Stuttgart, Köln und München Literatur- und Theaterwissenschaften, Kunstgeschichte und Philosophie. Er absolviert eine Schauspielausbildung, tritt auf der Bühne und in kleinen TV-Rollen auf; jobbt als Dramaturg und Regieassistent beim Theater und macht erste eigene Inszenierungen, u.a. Brechts Mann ist Mann. Ab Mitte der 1970er Jahre ist er freier Mitarbeiter, Autor und Regisseur beim Fernsehen, vornehmlich in Kultur- und Filmredaktionen. 1978 gründet Goedel in München seine eigene Produktionsfirma, die sich auf Filme über kulturelle Themen spezialisiert. Die erste frei finanzierte Arbeit für das Kino ist der Dokumentarfilm Talentprobe.

Dieses „echte Stück deutscher Ethnographie“ (Süddeutsche Zeitung) gibt den Auftakt zur Hommage Das unbekannte Meisterwerk, für die wir zusammen mit dem Filmemacher zehn seiner Arbeiten ausgesucht haben, rund ein Drittel seines Œuvres. Der Fokus liegt dabei auf seiner langjährigen Beschäftigung mit dem Werk des Autors Wolfgang Koeppen, einer wunderbaren Begegnung mit Elias Canetti, dem späteren Nobelpreisträger für Literatur, sowie zwei Porträts über Professionisten, die das Kino selbst zum Inhalt haben. Zum Abschluss kehren wir zum Ausgangspunkt zurück und es gibt eine Zugabe zur Talentprobe, in der wir den hoffnungsvollen Schlagerstars von einst wiederbegegnen. (Michael Omasta, Brigitte Mayr)

Alle Filme der Personale werden in kurzen Einführungen vorgestellt und in Anwesenheit des Filmemachers Peter Goedel gezeigt.

DIE FILMLEKTÜRE: Die Filme von Peter Goedel. Das unbekannte Meisterwerk

Peter Goedel ist als Film- und TV-Regisseur ein Autorenfilmer, ein Essayist und poetisch Forschender obersten Ranges, mit großer Affinität zur Literatur und Musik. Wir dringen ins Innerste dessen ein, was er in seinen Filmen darstellt. Gleichzeitig ist die Form dieser Darstellung, das Filmische also, bei ihm jederzeit spürbar, sodass auch die beglückende Erfahrung einer Freiheit dem Gegenstand gegenüber immerzu mit im Spiel ist. Wir wandeln in den Geheimnissen und Weiten des Dargestellten, tragen Schätze aus ihm ein, verändern und belehren uns dabei.

Die vorliegende Broschüre enthält Betrachtungen (Miniaturen) zu allen zugänglichen Filmen Peter Goedels, einen Beitrag zu seiner Biografie, eine Filmografie und ein Vorwort zum stilvoll Schönen seiner Filme. (Peter Nau)

Die Miniaturen von Peter Nau zu den Filmen von Peter Goedel: Gruselkrimis in der Hauptschule – Elias Canetti – Was Eltern fordern – Rainer, 21 Jahre, möchte Schlagersänger werden – Wir vom Film – Talentprobe – Rückkehr zu den Sternen – Hugo Kükelhaus – Hinter den Elbbrücken – Das Treibhaus – Treibhaus Bonn – Es war einmal in Masuren – Verschollen im Videoraum – Das Feuer der Menhire – Trip nach Tunis – La Star de Babelsberg – Faber-Castell – Stars unter Palmen – Tanger – Eine Kindheit in Marokko – Verbrechen in Florenz – An der Straße von Gibraltar – Talentprobe: Ein Wiedersehen – Gertis Schoppenstube – Ein Klubhaus erzählt – Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da

Peter Nau
DAS UNBEKANNTE MEISTERWERK. Die Filme von Peter Goedel
Redaktion: Brigitte Mayr, Michael Omasta
SYNEMA-Publikationen (Wien 2018)
52 Seiten, 35 Fotos in Farbe und Schwarzweiß, in deutscher Sprache
ISBN 978-3-901644-75-7, Preis: € 10,–

Gerne direkt zu bestellen unter: office[at]synema.at

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Mi, 3.8.2022, 18:00 Uhr: Talentprobe (1980, 35mm, 119 min.)
Schauplatz dieses Dokumentarfilmklassikers ist die Freilichtbühne des Tanzbrunnen im Rheinpark in Köln. Dort geben Amateur*innen in „Udo Werners Talentprobe für Jedermann“ vor 5000 johlenden Zuschauer*innen eine Kostprobe ihrer Gesangskünste. Vier Kamerateams beobachten die Ankunft der hoffnungsfrohen Schlagerstars am Nachmittag, ihre Vorbereitung auf den Auftritt, die tatsächliche Darbietung und die gnadenlosen Reaktionen des Publikums bis zur Siegerehrung spätnachts. Talentprobe nimmt die heutigen Castingshows um Jahrzehnte vorweg, allerdings ohne sich mit der Häme der Veranstalter und des Publikums gemein zu machen. Im Gegenteil, in suggestiven Momentaufnahmen von Kandidaten wie dem „Elvis aus dem Westerwald“ oder dem „Kölschen Travolta“ zeichnet der Film, so Peter Nau, „flüchtige Porträts, die das drohend untergrabene Fundament spüren lassen, auf dem ihre Hoffnungen ruhen“. (mo/bm)

Mi, 3.8.2022, 20.30 Uhr: Peter Przygodda, Schnittmeister (1993, 50 min.)
Mit: Peter Przygodda, Bruno Ganz, Peter Handke, Reinhard Hauff, Dennis Hopper, Klaus Lemke, Jeanne Moreau, Nicholas Ray, Wim Wenders, Angela Winkler.
Er war einer der Großen seines Fachs: Peter Przygodda (1941–2011), der Schnittmeister des Neuen Deutschen Films, der Regisseure wie Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Hans W. Geißendörfer, Reinhard Hauff, Klaus Lemke in ihren Anfängen begleitete. Seine Arbeit als Editor beschreibt er bescheiden als „konstruktiven Opportunismus“ und sagt: „Ob mir das Material eines Films gefällt oder nicht, das ist weniger wichtig. Ich muss meinen Job machen, so gut es geht. Alles andere spielt keine Rolle. Es gibt einen Zwang im Material, den man im Schnitt umsetzen muss.“ Hier nun, in Berlin im Sommer 1992, arbeitet Przygodda gerade an der deutsch-französischen Co-Produktion Die Abwesenheit / L’Absence von Peter Handke. Von den Prozessen im Schneideraum blendet der Film zurück auf wichtige Werke des deutschen Kinos der 1970er- und 1980er Jahre, die er entscheidend mitgestaltet hat. (bm/mo) Im Anschluss: Peter Goedel im Gespräch mit Brigitte Mayr und Michael Omasta

Do, 4.8.2022, 18:00 Uhr: Das Treibhaus (1987, 35mm, 101 min.)
Drehbuch: Peter Goedel nach dem gleichnamigen Roman von Wolfgang Koeppen. Mit: Christian Doermer, Jörg Hube, Hanns Zischler; Erzähler: Rüdiger Vogler.
Das Treibhaus, erschienen 1953, ist das Herzstück von Wolfgang Koeppens berühmter „Trilogie des Scheiterns“, ein Schlüsselroman über die Gründungszeit der Bundesrepublik. Im Mittelpunkt steht der aus dem Exil zurückgekehrte SPD-Bundestagsabgeordnete Felix Keetenheuve, der gegen die Wiederbewaffnung und für eine Wiedervereinigung der Zonen kämpft. Anhand dieser fiktiven Figur spannt Peter Goedels Film einen Bogen von der Nachkriegsgeschichte bis zur Bekräftigung des NATO-Doppelbeschlusses durch die Regierung Kohl. „Rüdiger Voglers Kommentarstimme lässt die Gegenwart so klingen, als wäre sie schon Erinnerung“, bemerkt Peter Nau. „Die vegetabilisch treibenden Bilder Koeppens gehen als die Sätze, die sie sind, in den Film ein, werden nicht ‚in Filmsprache übersetzt‘. Stücke aus Wagners Rheingold, Wochenschauaufnahmen aus der Adenauer-Ära, zwei Auftritte Koeppens gehören zum Innenraum dieses komplexen, packenden Films.“ (mo/bm)

Do, 4.8.2022, 20.30 Uhr „Der Mensch wird noch alles und ganz werden …“ Elias Canetti. Eine Reise in die Provinz des Menschen (1975, 45 min.)
Mit: Elias Canetti, Gottfried Langenstein.
UND
Gespanntes Verhältnis. Literatur und Politik im „Treibhaus“ Bonn (1989, 44 min.)
Mit: Wolfgang Koeppen, Hildegard Hamm-Brücher, Walter Jens, Erich Kuby.
Zwei rare Glanzstücke des literarischen TV-Features. Zuerst lässt Elias Canetti auf einer Zugfahrt von Zürich nach Wien Begegnungen mit Menschen und Büchern und den Ursprung seines Lebensthemas „Masse und Macht“ Revue passieren, während ein junger Mann seine Lebensrealität unter dem Eindruck der Lektüre-Erfahrungen neu entdeckt und Szenen aus Canettis Komödie der Eitelkeit (u.a. mit Herbert Achternbusch) verfolgt. Danach untersuchen Goedel und Koeppen quasi in Nachbearbeitung des Films Das Treibhaus, inwieweit dessen zeitkritische Äußerungen über die Bonner Politiker auch in der Gegenwart des Jahres 1989 noch zutreffen. (mo/ bm)

Fr, 5.8.2022, 18:00 Uhr: Hinter den Elbbrücken (1986, 35mm, 82 min.)
Drei Freunde verbringen in einem kleinen Kutter zusammen eine Woche auf hoher See. Rudi war Fernfahrer, wegen ständigen Heimwehs musste er den Beruf aufgeben, hat zwei gescheiterte Ehen hinter sich und baut seit zehn Jahren an einem alten Bauernhaus in Schleswig-Holstein; sein Kumpel Jens und sein Neffe Klaus-Peter helfen ihm dabei. Während der gemeinsamen Tage an Bord der „Kehrwieder“ angeln sie, trinken Bier, reden über ihr Leben, hängen ihren Wünschen und Träumen nach. „Hinter den Elbbrücken ist ein Film“, schreibt Dunja Bialas, „der sich anstemmt gegen den beginnenden Strom der Bilderflut, und der mit der Sorgfalt für das Bild und die porträtierten Menschen ein Kino der kinematographischen ‚Würde‘ ist.“ Eine Schiffsreise in unruhige dänische Gewässer. (bm/mo)

Fr, 5.8.2022, 20:30 Uhr: Alois Gugutzer, Filmvorführer: „Das Zelluloid, das läßt einen nicht los.“ (1979, 16mm, 99 min.)
Ein Dokumentarfilm über eine vergangene Ära: Als Kind hat Alois Gugutzer noch das Ende der Stummfilmzeit erlebt, seither war er dem Kino verfallen. Mit 60 steht er an seinem Arbeitsplatz, der Vorführkabine des Münchner Royal-Palasts, das zu einem Multiplex mit vier Sälen umgebaut wurde. Während er sich um die Projektion kümmert, erzählt er vom Soldaten- und Wanderkino, das er betrieben, und von den Galapremieren und Filmstars nach dem Krieg, die er miterlebt hat. Wie als Begleitmusik legt sich das Rattern der Maschinen über die Tonspur, die Stimmen, Geräusche und Scores der gerade laufenden Filme. Auch wenn sein Berufsstand inzwischen den soliden handwerklichen Charakter längst verloren hat, kann sich Alois Gugutzer nicht vom Film trennen: „Ich brauch‘ das, ich muss das haben“, sagt er und zeigt auf den Filmprojektor, „das Zelluloid, das läßt einen nicht los.“ (mo/bm)

Sa, 6.8.2022, 18:00 Uhr: Ortelsburg – Szczytno. Es war einmal in Masuren (1990, 16mm, 82 min)
Drehbuch und Erzähler: Wolfgang Koeppen
Davor: Tod in Rom Ein Film von Peter Goedel und Peter Nau. (2022, 12 min.)
Eine Reise zurück in die Kindheit. Der deutsche Schriftsteller Wolfgang Koeppen (1906–1996) wuchs in einem ostpreußischen Städtchen am Rand der masurischen Seenplatte auf, wo er nach eigener Aussage die schönsten Jahre seines Lebens verbrachte: in Ortelsburg, das seit 1945 zu Polen gehört. In einem imaginären Dialog führt der Dokumentarspielfilm die Erinnerungen des 84-jährigen Autors an diese Zeit mit den Erzählungen eines 14-jährigen Buben namens Pawel aus dem heutigen Szczytno zusammen. So trägt uns der Film „den Klang dieser untergegangenen Welt über die Jahre eines langen Menschenlebens hinweg wieder zu“ (Peter Nau) und entfaltet ein sehr persönliches Panorama der wechselhaften Geschichte Deutschlands und Polens von der Kaiserzeit bis in die Gegenwart. Der gerade erst fertiggestellte Kurzfilm Tod in Rom wird als Weltpremiere gezeigt und entstand nach einem Essay von Stephan Oswald: „Das Grabmal als Merkzeichen. August von Goethes Tod in Rom“ (erschienen in der Zeitschrift Sinn und Form, März/April 2022). (mo/bm)

So, 7.8.2022, 18:00 Uhr: Zugabe. Talentprobe – Ein Wiedersehen (2009, 97 min.)
Was an einem Juliabend 1979 im Tanzbrunnen im Kölner Rheinpark begann und von Peter Goedel in seinem mittlerweile legendären Film Talentprobe dokumentiert wurde, findet hier seine Fortsetzung. Nun, 30 Jahre danach, zeichnet er als Produzent eines Films von Manfred Behrens, der einige der „Talente“ ausfindig gemacht hat und ihre Lebenswege zurückverfolgt – Spoiler: Die wenigsten konnten ihre Gesangskarrieren erfolgreich fortsetzen. „Zugabe ist ein Film, der uns sagt, dass Vergänglichkeit nicht etwas Trauriges ist“, schreibt Peter Nau. „Sie ist so etwas wie die Ruhe zwischen zwei Tönen – der Jugend und dem Alter –, in deren dunklem Intervall sich die Gegensätze versöhnen.“ Der neue Film konfrontiert die Protagonist*innen mit ihren damaligen Auftritten, die Reaktionen fallen denkbar unterschiedlich aus: „Es gibt Schlimmeres“, sagt einer. „Das waren die schönsten zehn Minuten meines Lebens“, ein anderer. (bm/mo)

Detaillierte Credits des Programms und Ticketbestellungen unter: https://www.filmmuseum.at/jart/prj3/filmmuseum/main.jart?rel=de&content-id=1216720898687&schienen_id=1652858353606

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Wir danken dem Österreichischen Filmmuseum und seinem Team – speziell Christoph Huber für die Ausdauer bei der Kopienbeschaffung –, dass diese von SYNEMA kuratierte Personale dort stattfinden kann, wo sie hingehört: im Kino.

Unser ganz besonderer Dank gilt Peter Goedel, der uns sein Vertrauen geschenkt und die freie Auswahl aus seinem Filmschaffen überlassen hat, sowie Peter Nau, ohne dessen Enthusiasmus weder die Filmschau noch die Broschüre zustande gekommen wären.

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SYNEMA – Gesellschaft für Film und Medien ist eine – von der Sektion IV: Kunst und Kultur / Abt. 3: Film des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport – geförderte Institution.
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