Entstehung und Entwicklung der wissenschaftlichen Slawistik Wiens


Slawistik oder Slawische Philologie ist die Wissenschaft von den slawischen Sprachen und Literaturen. Sie gliedert sich in Sprach- und Literaturwissenschaft.
An der Universität Wien wurde 1849 der weltweit älteste Lehrstuhl für Slawistik (als Institution, die sich aus der Gesamtheit der dort tätigen sprach- und literaturwissenschaftlichen Mitarbeiter sowie dem leitenden Professor zusammensetzte) eingerichtet. Einige andere Universitäten Europas erforschten schon vor 1849 im Rahmen vergleichender Sprachwissenschaften slawische Spracheigenheiten.
Im ersten Drittel des 19. Jhs entstanden erste wichtige Grundlagen der Wiener wissenschaftlichen Slawistik, auf Basis von Einzelleistungen wissenschaftlicher Pionieren, die sich auch als Austroslawisten bezeichneten.
Wien als Zentrum des Austroslawismus.
Der Austroslawismus bezeichnete seit den 1820-er Jahren eine politische, aber auch intellektuelle Ausrichtung der Slawen.
Als ideologisches Programm der Slawen unter habsburgischer Herrschaft sah er im österreichischen Kaiserstaat den optimalen politischen Rahmen für die Existenz der slawischen Völker Zentraleuropas. Gefordert wurde eine Umformung der Monarchie in ein föderalistisches Staatsgebilde und die Gleichberechtigung der österreichischen Slawen, um deren freie Entfaltung zu gewährleisten. Diese Gedankenwelt entwickelte sich schon zu Beginn des 19.Jhs als ein spezifischer Zweig des Panslawismus.
Der Panslawismus (allslawische Bewegung) entstand als romantischer Nationalismus. Sein Ziel war die kulturelle, religiöse und politische Einheit aller slawischen Völker Europas.
Als einer der größten Pioniers des Austroslawismus gilt Bartholomäus (Jernej) KOPITAR (* 1780 in Repnje, Krain; † 1844 in Wien), ein slowenischer Gelehrter aus Krain, dessen Wirkungsstätte Wien war, wo er zunächst als Zensor in der Polizeihofstelle, später als Leiter der Handschriftenabteilung der Wiener Hofbibliothek wirkte. Unter anderem war er ein hervorragender Philologe und schuf die erste moderne Grammatik des Slowenischen (Grammatik der slawischen Sprache in Krain, Kärnten und Steiermark, 1808). KOPITAR sammelte eine Gelehrtenrunde aus verschiedenen slawischen Lagern um sich, um den Austausch der neuen nationalen Ideen zu beflügeln. Er selbst verstand sich als Slawe und rief Wien zum natürlichen Zentrum und Kristallisationspunkt der Slawen Zentraleuropas aus – hier sollten die wichtigsten Institutionen für die slawische Erneuerung entstehen.
Der Austroslawismus sah in der Habsburgermonarchie die Hüterin der slawischen Völker.
KOPITAR gilt aber zusammen mit Josef DOBROVSKÝ und Pavel Jozef ŠAFÁRIK auch als Begründer der wissenschaftlichen Slawistik
Josef DOBROVSKÝ (* 17. Aug. 1753 Neograd; † 6. Januar 1829 in Brünn) war ein häufig in Wien frequentierender böhmischer Theologe, Philologe und Slawist, der als einer der Begründer der modernen tschechischen Schriftsprache gilt.
Der Slowakische Wissenschaftler und Dichter Pavel Jozef ŠAFÁRIK (dt. Paul Joseph SCHAFFARIK, * 1795 in Kobeliarovo, Slowakei; † 1861 in Prag) war ebenfalls ein häufig in Wien weilender und forschender Pionier der Slawistik und Repräsentant des Austroslawismus.
Alle relevanten Schritte zur Etablierung der Wiener Slawistik an der Alma Mater Rudolphina wurden mit Einwilligung bzw. auf Wunsch des jungen (in den Jahren 1849–1858 neoabsolutistisch regierenden) Kaisers FRANZ JOSEPH getätigt. Sie waren einerseits als kaiserlicher Dank an die Slawen zu verstehen, aber auch als eine Aufwertung, insbesondere der Südslawen, die sich im Ungarischen Unabhängigkeitskrieg 1848/49 als kaisertreue Kämpfer und als Befürworter der kaiserlichen Trialismusidee im leidenschaftlich geführten Kampf gegen ihre Zwangsmagyarisierung erwiesen hatten. Was die wissenschaftliche Ausrichtung betrifft, wollte Kaiser FRANZ JOSEPH – im Rahmen seiner ehrgeizigen Pläne für die Aufwertung der Donaumetropole – die Universität Wien auch als europäisches Zentrum der Slawistik sehen.
Auf Anraten des Innen- und Bildungsministers Graf STADION wurde der Slowene Franc MIKLOSIC (dt. Franz MIKLOSICH) 1849 zunächst als außerordentlicher, im Jahr darauf als ordentlicher Professor auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Slavische Philologie an der Universität Wien berufen, den er bis 1886 innehatte. 1853/54 war er auch Rektor der Wiener Universität. In Jahre 1848 wurde MIKLOSICH zum korrespondierenden und 1851 zum wirklichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Wien gewählt.
In seinen Vorträgen betonte MIKLOSICH immer wieder, dass keine anderen Sprachen einander so ähnlich seien, wie das Serbische und Kroatische. Diese Thesen führten zu einer engen Kooperation mit dem Sprachwissenschaftler Vuk Stefanovic KARADZIC, der im folgend beschriebenen Sprachabkommen eine tragende Rolle spielte.
Das Wiener Sprachabkommen von 1850.
Das Wiener Sprachabkommen von 1850 ist der Grundstein für die Entstehung der serbokroatischen Schriftsprache, die in Wien fast eineinhalb Jahrhunderte unterrichtet wurde.
Die sprachpolitische Bewegung, der Illyrismus, an der Spitze mit Ljudevit GAJ, propagierte die gemeinsame Sprache aller Südslawen.
In Wien trafen einander serbische und kroatische Philologen und Schriftsteller, um, politisch bedingt, an einer gemeinsamen Schriftsprache zu arbeiten.
Die Universität Wien wurde in den nächsten Jahren zur Schnittstelle wissenschaftlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Koordination des Balkans. Die slawistische Sprachwissenschaft diente ab nun den sprach-historischen, sprach-geographischen und sprach-kulturellen Studien der slawischen Völker. Die slawische Literaturwissenschaft hingegen setzt sich bis heute im Wesentlichen aus den Teilgebieten der slawischen Literaturgeschichte, Literaturtheorie, Literaturinterpretation und Literaturkritik zusammen.
Den langen Weg der Wiener Slawistik von der Monarchie zur Republik Österreich prägte der kroatische Sprachwissenschaftler Vatroslav JAGIC; (*1838 in Varaždin; † 1923 in Wien).
Er war ein Schüler von Franc MIKLOSIC, dem er 1886 als Leiter des Wiener Slawistikinstituts folgte. Er gilt als einer der bedeutendsten Slawisten im letzten Drittel des 19. Jhs und beginnenden 20. Jhs und als einer der letzten, der das Fach noch in seiner ganzen Breite überschauen konnte.
Die Wiener Slawistik profitiert bis heute von ihrer großen Geschichte.
Ihre Stärke war und ist das stets präsentierte verbindende Element. Immer wurde und wird das Verbindende vor das Trennende gestellt.
Seit den 1990-er Jahren wurde jedoch der Panslawismus durch nationalistische Strömungen ausgehöhlt, wenn nicht sogar vernichtet. Die Entstehung neuer südslawischer Sprachen mit künstlichen Wortschöpfungen hat ebenso wie die Spaltungen der slawisch-orthodoxen Kirchen gezeigt, dass auch in einem Europa der Vielfalt der Satz „Gemeinsam sind wir stärker!“ ungeschmälerte Bedeutung hat.