Von wegen homo homini lupus – Dem Wolf ist der Mensch ein Mensch.


Eine einzige Tierart behandelt der Mensch wie seinesgleichen: den Wolf. Anpassungswillige
Wölfe änderten wir ein wenig und integrierten sie als „besten Freund“ in unsere Familien –
und mit den anderen Wölfen gingen wir ebenfalls so um, wie sonst nur mit Mitmenschen, mit
andersgläubigen, andersdenkenden, andersseienden Mitmenschen: in hemmungslosem Hass,
mit der Absicht, den anderen zu erniedrigen, qualvoll zu zerstören, möglichst grausam zu
töten. Jahrhundertelang verfolgte nahezu die gesamte Bevölkerung Mitteleuropas (und
Nordamerikas), vom Kind bis zum General, Wölfe mit allen erdenklichen Mitteln, aus dem
Hinterhalt oder in offener Schlacht, mit Mistgabeln und Gewehren, mit Gift und kirchlich
gesegneten Kugeln, und bis zur nahezu vollständigen Ausrottung der Wölfe war Aggressivität
und Grausamkeit im Umgang mit diesem Wildtier gesellschaftliche Pflicht.
Der Wolf ist der Schafräuber par excellence (und das Schaf das perfekte Nutztier) und kann
unter Umständen auch Menschen gefährlich werden, aber sind das hinreichende Gründe, ihn
als das Böse schlechthin, als Gegenstück zu Gott zu sehen)?
Meines Erachtens ist es ganz wesentlich die Abspaltung des Hundes vom Wolf, die zu dieser
(der menschlichen Denkweise entgegenkommenden) extremen Dichotomie von Gut und Böse
innerhalb einer Tierart führte. Durch Sesshaftigkeit wurde Wildnis, durch Land- und
Viehwirtschaft wurden Wildtiere definiert, wortwörtlich abgegrenzt. Was Wildtieren zur Last
gelegt wird, ist eine Grenzüberschreitung in das so entstandene, sich stetig ausweitende
Hoheitsgebiet des Menschen. Keiner missachtet diese Grenze so vielfältig, hartnäckig und
massiv wie der Wolf – und kein Tier ist ein so diszipliniertes Haustier wie der Hund, der nicht
nur selbst kein Missetäter ist, sondern unseren Besitz gegen Diebe verteidigt. Erst durch das
Vorhandensein dieses Gegenstücks wird der Wolf als „unverwertbarer“ Abfall des Hundes
(was sich auch in der lateinischen Namensgebung spiegelt) zur Verkörperung der
ausschließlich bösen, zu vernichtenden, weil unzähmbaren und unnützen Wildnis, ebenso wie
zur Verkörperung unserer unzivilisierten, also die menschliche Gemeinschaft schädigenden
Triebe. Das „Tagebuch eines Bürgers“ (1405–1449) belegt, wie schnell die
Grenzüberschreitung zu einer Katastrophe im wahrsten Sinn wird, wenn Wölfe in die Stadt,
den zivilisierten Menschenbereich schlechthin, eindringen. Aufgrund ihrer
Anpassungsfähigkeit und hohen Reproduktionsrate sind Wölfe „ein Indikator für den Zustand
von Stadt und Land, für gute und schlechte Jahre. Ein Nachlassen der Wachsamkeit, ein
wirtschaftlicher Rückschlag, ein strenger Winter, und die Wölfe nehmen überhand.“ (Braudel)
Es ist der Rückfall in den negativ konnotierten chaotischen „Naturzustand“, ebenso wie der
Krieg, der die Menschen zu Wölfen werden lässt (marodierende Banden außerhalb ebenso
wie die schlechte Regierung innerhalb der Stadt). Denn der Wolf dringt nicht nur räumlich in
den Bereich der Menschen, als Viehräuber entwendet er nicht nur lebenswichtige Nutztiere,
und raubt, wie jeder Dieb, mit dem materiellen Gut auch einen Teil des Eigentümers und
missachtet zudem sogar die Grenze zum Mensch-Sein: In der frühen Vorstellung handelt der
Verbrecher nicht WIE ein Wolf, sondern begeht ALS Wolf Taten, die Menschen auf Grund
ihres Menschseins nicht begehen können (Inzest, Verwandten- und Vatermord, Diebstahl, vor
allem nächtlicher Diebstahl, Leichenraub, Verzehr von Menschenfleisch etc.) und prägt auf
diese Weise die germanische Rechtsprechung und das Strafsystem (Friedlosigkeit, Wüstung,
Steinigung, Hängen/Mithängen von Wölfen, Asylbereiche). Die Grenze zwischen Mensch
und Wolf bleibt bis in die Gegenwart durchlässig. Nicht nur in Werwölfen, der bis heute
häufigsten Therianthropie, sondern in Wölfen aus Fleisch und Blut leben wir unsere
moralischen, ästhetischen und emotionalen Ängsten und Verlangen aus, weil wir in ihnen
jenen Wolf sehen, den wir, parallel zur Züchtung des Hundes, aus sozialen, ökonomischen
und politischen Bedürfnissen und Ansprüchen geschaffen haben. Aber Wolf steckt keiner in
uns. „Die Natur selbst hat dem Menschen einen Zug Unmenschlichkeit eingepflanzt“ hat
Montaigne lange vor Darwin erkannt. Es ist also nur menschlich, wenn der Mensch ein Wolf
für den Menschen ist.